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DIE BERGE, DIE WÜSTE UND DAS MEER/Novelle

 

Drei Frauen begeben sich auf die Suche nach ihrer verschwundenen Schwester. Gemeinsam durchwandern sie die Berge, die Wüste und das Meer.

 

Eine kurze Geschichte über Identität, Selbstbestimmung und den Sinn.

Leseprobe:

Alles begann mit einem verwaisten Wagen an der Landstraße. Als ein Schafhirte zufällig des Weges kam. Seine Herde trieb er vor sich her, und plötzlich entdeckte er das Gefährt, das so arglos am Wegesrand stand. Das Rot schimmerte in der Mittagssonne, und die Türen standen weit offen. Leise lief das Autoradio. Von der Besitzerin fehlte jede Spur. Die Polizei kam den weiten Weg von der Stadt in die Einöde und suchte. Das tat sie vergeblich, denn Verschwundenes drängt zumeist danach, nichts an seinem Wesen zu verändern. Zwar durchsuchte man einige Tage lang die Gegend, drehte jeden Stein um und las jede Spur, letztlich gab man jedoch auf und überbrachte den drei Schwestern die traurige Nachricht. Dass die Älteste unter ihnen verschwunden war, traf die drei anderen unerwartet. Dennoch wollten sie nicht an den Tod der Vierten glauben. Sie trafen einen gemeinsamen Entschluss. Es galt, die Verschollene um jeden Preis zu finden. Bis ans Ende der Welt würden sie reisen, und 2 darüber hinaus. So packten die Schwestern das Nötigste ein und brachen auf. Der erste Abschnitt ihrer Reise führte die drei Schwestern in die Berge. Die Schwestern, das waren drei Frauen unterschiedlichen Alters. Die Jüngste hörte auf den Namen O. Die nächste auf den Namen F. Die Älteste der drei schließlich nannte man A.

DIE BERGE

Hoch wie tausend Mauern bauten sich die Berge vor den Schwestern auf. Eingeschüchtert wich O zurück und hegte Zweifel, ob sie den Aufstieg bewältigen könnten. A versuchte, die Zweifel zu zerstreuen, sie wäre, so versuchte sie die anderen beiden zu beruhigen, schon oft in den Bergen gewesen. Sie kenne jeden Pfad und jeden Stolperstein, und letztere geschickt zu umgehen, würde ihr leicht fallen.

„Folgt mir und euch wird nichts geschehen“, sagte sie.

Über weite Felder wanderten sie dem Gebirge entgegen und ließen das, was gewesen war, zurück. Der Wagen verwilderte längst, die Natur umschlang ihn mit ihren starken Armen. Ihm galt keine Aufmerksamkeit mehr, denn der Blick der Schwestern war nach vorne gerichtet, dorthin, wo sie die Verschollene vermuteten.

„Sie war gerne in den Bergen unterwegs“, sagte A. „Der Aufstieg fiel ihr leicht, so wie ihr vieles im Leben leicht fiel. Ich war oft mit ihr auf Wanderschaft. Ich konnte dabei viel von ihr lernen.“

Bald endeten die Felder und die Landschaft erhob sich. Erst zaghaft zu einem leichten Anstieg, schließlich zu einem Hügel, und nach wenigen Stunden bäumte sich das, was einst ein Hügel war, zu einem gewaltigen Berg auf. Das Gras wurde spärlicher und wich dem Gestein. Der Pfad war lange Zeit beschildert und führte geradewegs zum Gipfel. O und F verspürten bald erste Anzeichen von Müdigkeit. Sie atmeten schwer, ebenso wie ihre Beine mit jedem Schritt schwerer wurden. Hier und da gab es Möglichkeiten zur Rast. Hölzerne Bänke, mit kunstvollen Verzierungen geschmückt. Nach wenigen Stunden schon drängten sie zur Rast, doch A schüttelte den Kopf und trieb sie weiter an. Erst am späten Nachmittag machten sie Rast an einem Brunnen. F fiel davor auf die Knie und trank gierig.

„Du trinkst als würde die Quelle im nächsten Augenblick versiegen“, stellte A fest.

„Es schmeckt bitter“, klagte F und spuckte das Nass aus.

Der bergige Boden stieß es ab und das Wasser floss gen Tal.

„Du gewöhnst dich besser daran“, sagte A. „Diese Quelle ist alles, was wir haben. Sie wird uns auf unserem Weg durch die Berge begleiten.“

Auch O beugte sich vor und nahm vorsichtig einen Schluck.

„Es schmeckt nicht schlecht“, sagte sie dann. „Insbesondere gefällt mir aber sein Antlitz.“

„Von welchem Antlitz sprichst du?“, wollte A wissen und sagte weiter:

„Das Wasser ist das Wasser. Es fließt, um getrunken zu werden. Es gibt uns verlorene Kraft zurück. Kraft ist Ausdauer, und nur die brauchen wir auf dem Weg nach oben.“

„Ich finde es schön“, erwiderte O verträumt und musterte den sich stetig wandelnden Körper des Wassers. „Schau das Blau. Es ist so hell, dass man hindurchsehen kann. Es verbirgt nichts. Das gefällt mir.“

„Und es hält niemals inne. Es fließt ständig“, fügte F hinzu.

Sie nahm einen weiteren Schluck und schon begann das Wasser, besser zu schmecken. A rümpfte die Nase.

„Ihr seid komisch“, sagte sie. „Was nützt uns die Schönheit des Wassers, was seine Bewegung, wenn es kraftlos ist? Wenn es keine Energie spendet? Dieses hier ist glücklicherweise nicht so. Es strotzt vor Kraft.“

„Es gibt Orte, da fließt es im Überfluss. Es gibt dort so viel von dem Wasser, dass man verlernt es zu schätzen. Man wird blind für die Schönheit einer einzelnen, kleinen Quelle“, erklärte O.

„Es gibt Orte, da gibt es kaum einen Tropfen. Man sucht und sucht und sucht, doch tut man es vergeblich. Dann sehnt man sich nach der unbändigen Energie dieser bergigen Quelle“, sagte F und trank gierig weiter.

„Nie ist es dir genug“. A verschränkte die Arme.

„Wie gerne würde ich sagen, Trinkt aus, wir gehen. Aber im Ernst. Wir sollten aufbrechen, wir müssen weiter, wir dürfen nicht zu lange anhalten, sonst kommen wir nicht mehr vom Fleck. Beständigkeit führt zum Ziel, das werdet ihr schon noch lernen! Nehmt euch ein Beispiel an eurer heißgeliebten Quelle.“

Heißt liebten F und O das Kalt noch einen Augenblick, dann rissen sie sich los und folgten A, die schon vorausgegangen war.

 

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