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SIEBEN TRÄUME/Roman

Sieben Menschen – Sieben Schicksale – Sieben Geschichten. Ihre Namen sind Bob, Hiob, Aiko, Bonaparte, Grace, Alice und Tom. Sie kennen einander nicht, und doch haben sie eines gemeinsam. Als einsame Seelen streifen sie durch die nächtliche Großstadt, auf der Suche nach Zuneigung, Bestätigung und dem Vergessen. Ihre Wege kreuzen sich hier und da, und beeinflussen sich, ohne dass sie es merken. Jeder von ihnen hat mit ganz eigenen, inneren wie auch äußeren Konflikten zu kämpfen, und so stolpern sie alle durch eine melancholische Nacht, in der nichts ist, wie es scheint.

 

Leseprobe:

 

Ein kluger Mensch denkt ab und an über Selbstmord nach. Tom weiß das und er kann sich kaum an sein erstes Mal erinnern. Das muss mit elf oder zwölf Jahren gewesen sein. Als er mit einem Messer in der Hand auf einer Wiese stand und plötzlich ans Sterben dachte. Zwischen Blumen, die sich schillernd leuchtend zur Sonne beugten, und Gräsern, vom leichten Hauch des Sommerwindes geküsst. In den dunklen Wäldern wanderten Füchse philosophierend umher und befragten das Orakel nach dem Ausgang ihres Lebens. Tom, damals noch ein Knabe, empfand diesen Moment als einen wunderbaren. Nicht nur beeindruckte ihn die Schönheit der Natur, die ihn umgab, auch die Fragilität seines eigenen Wesens und Körpers übte große Faszination auf ihn aus. Ein einfacher Schnitt mit dem Messer, und vorbei wäre das noch junge Leben. Es könnte so einfach sein. Doch Tom entschied sich anders, und so führt ihn sein Dasein heute Nacht ans offene Fenster seines Apartments. Die Miete hat er seit zwei Monaten schon nicht mehr bezahlen können. Alles verfällt. Tom schreibt mit ruhiger Hand seinen Abschiedsbrief. Wer sich die Mühe macht, einen solchen zu verfassen, und bereit ist, all die Gedanken, die bis zu diesem Moment im sicheren Käfig des eigenen Bewusstseins gefangen waren, zu entfesseln und hinaus in die Welt zu entlassen, meint es ernst. In Toms Augen ist jeder Mensch selbstmordgefährdet. Suizid ist das Recht eines jeden und kann jedem passieren.

 

Die letzte Zeile schreibt sich ebenso leicht wie der Rest. Tom faltet das Papier und steckt es in die Brusttasche seines Hemdes. Er schließt das Fenster und zieht die Vorhänge zu. Auf dem Bett liegt die Gitarre, zwei Saiten sind gerissen und werden nun ausgetauscht. Tom tut es mit großer Sorgfalt und Geduld. Es gibt nichts zu überstürzen. Nur eine Frage beschäftigt ihn. Welches Lied soll er spielen, welche seiner unzähligen Kompositionen? Wehmütig schweift Toms Blick hin zum Schreibtisch, auf dem sich ein Berg zerrissener Tonbänder stapelt. Das erste hat er aufgenommen, als er zwanzig war. Heute ist er sieben Jahre älter. Sieben Jahre Leidenschaft, die nun am der Reise verstümmelt im Dreck liegen. Tom würde natürlich widersprechen und behaupten, nicht er habe versagt. Sieben Jahre hat der Musiker den Menschen Zeit gegeben, seine Musik zu verstehen. Sie taten es nicht, und er fand darin die Schuld für den ausbleibenden Erfolg. Und doch, müsste man ihm entgegnen, hat er aufgegeben. Brotlos und enttäuscht, nicht willig, weiterhin vor leeren Sälen aufzutreten, hat Tom beschlossen, ein letztes Lied zu spielen. Egal wo, egal vor wem, doch noch heute Nacht, noch bevor die Sonne aufgeht, denn wenn sie das tut, wird es Tom nicht mehr geben. Warum genau jetzt, wird Charon vielleicht fragen, wenn der junge Mann in sein Boot steigt. Der Augenblick war der richtige, wird Tom dann antworten, Ich bin in guter Gesellschaft.

 

Doch wohin treibt es den Musiker in finsterer Nacht? Zwölf Uhr ist gerade vorbei, als Tom das Licht in der Wohnung löscht, die Tür leise hinter sich zuzieht und sorgfältig abschließt. Er dankt stumm seinem gutmütigen Vermieter, wirft den Schlüsselbund in dessen Briefkasten und schleicht sich durch das dunkle Treppenhaus ins Erdgeschoss. Dabei hat er nur seinen Gitarrenkoffer, dessen Griff schwer in der rechten Hand ruht. Auch das Instrument ist gespannt. Was darf es heute Nacht zum Besten geben? Den Protestsong, in kühnen Vorstellungen von Tausenden bejubelt, als kritische Stimme einer Generation, auf dem Dach eines Wagens stehend, hinabblickend auf das Meer zum Himmel gestreckter Fäuste? Oder die stille Ballade, die von einer vergangenen Liebe erzählt, in epischer Länge, mit Versen so poetisch, dass selbst die größten Dichter blass am Rande sitzen und vergeblich versuchen, diese neue Sprache zu verstehen? Oder der chaotische, disharmonische, von manchen als dämonisch bezeichnete Klang gelebten Dadaismus, der sich in endlosen Akkordfolgen in die Gehörgänge der Hörer schlängelt? Tom zuckt mit der Schulter und die Gitarre tut es ebenso. Bei manchen seiner Stücke wundert ihn die Ignoranz der Menschen nicht. Er spaziert durch die Straßen, ohne Hast, denn der Morgen ist noch weit entfernt, und Tom möchte sich bei der Auswahl seiner letzten Bühne keinen Fehler erlauben. Er passiert hell erleuchtete Cafés, aus denen man Gelächter und Gläserklirren bis auf die Straße vernehmen kann. Menschen stehen hier und da vor den Türen der Restaurants und Bars, rauchen blau in den schwarzen Nachthimmel und sprechen über Belanglosigkeiten. Tom mustert ihre Gesichter, die mal teilnahmslos, mal scheinbar interessiert wirken, doch in allen Fällen Masken sind. Hinter ihnen befinden sich Wahrheiten, die nur der Träger der Maske kennt. Solche, die man nicht aussprechen und schon gar nicht zeigen möchte. Geheimnisse, Geschichten, Gedanken. Sorgen und Ängste, Fragen, die es zu beantworten gilt, die viel Zeit in Anspruch nehmen und nicht verschwinden, nur weil man sich abends mit Freunden zum Weintrinken trifft. Diese Menschen tun Tom leid, und doch ist er ihnen dankbar, denn sie sind die Protagonisten seiner Lieder. Über sie schreibt er, wenn er nicht über sich selbst schreibt. Gäbe es sie nicht, müsste er Schicksale erfinden. Sie würden vielleicht unglaubwürdig wirken, da sie nicht gelebt wurden, sondern nur in seinem Kopf entstanden wären. Möglicherweise aus Versatzstücken der Realität, und doch würden sie immer nur ein Produkt der Fantasie bleiben. Sie hätten kein Gesicht, keine Stimme, keinen Gang, keine Emotion. Und letztlich lenken diese Menschen den Musiker Tom von der einen Sache ab, vor der er selbst die größte Angst verspürt: Dem eigenen Sein.

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